Kultur
Verfasst von Martin Lee
Die Martlemer sprechen einen eigenen Dialekt, und man sagt von ihnen, dass sie eher bedächtig, aber stets wohlüberlegt handeln. Wahrscheinlich haben wir gerade diesen Eigenschaften den soliden Wohlstand und die grosse Anzahl guterhaltener Riegelhäuser zu verdanken. Als die Antiquitätenhändler die nicht niet- und nagelfesten "Schätze" von Marthalen zu heben begannen, setzte sich eine Gruppe von Marthlemern noch rechtzeitig für das Sammeln alter Gegenstände ein. Diesen weitsichtigen Leuten ist es zu verdanken, dass wir heute in den beiden Museen so zahlreiche Zeugen der Vergangenheit bestaunen können. Vorerst mussten die in den Jahren 1964 und 1965 gesammelten Gegenstände im alten Schützenhaus auf dem Lindenhof eingelagert werden.
Das Ortsmuseum
Nach Erwerb und Umbau der Liegenschaft "Hirschen" durch die Politische Gemeinde konnte 1977 auch mit der Umgestaltung des zugehörigen Oekonomieteiles begonnen werden. Am 24. September 1978 wurden sowohl Orts- wie Wohnmuseum in festlichem Rahmen eingeweiht. Im Raum des früheren Schlachthäuschens finden wir heute eine alte Schmiede sowie militärische Erinnerungsstücke. Im angrenzenden, früheren Trottenraum ist im wesentlichen der Weg vom Flachs zur Weinländertracht anschaulich dargestellt. Im ehemaligen Stall können wir die Dorf- und Zehntenpläne von 1746 bewundern, die im Auftrag des Klosters Rheinau sehr sorgfältig und genau ausgeführt wurden. Liebhaber alter Traktoren kommen in der Scheune genauso auf ihre Rechnung, wie Freunde des edlen Rebensaftes. Auch wenn kein Wein ausgeschenkt wird, ist jeder Besucher von der mächtigen Weinpresse beeindruckt. Nebenan sind verschiedene Gerätschaften aus der Pionierzeit der Feuerwehr zu bestaunen, die erahnen lassen, wie aufwendig und oft aussichtlos damals der Kampf gegen das Feuer gewesen sein muss.
Im Obergeschoss geben die zahlreichen Arbeitsgeräte Einblick in den harten und langen Arbeitstag der Holzfäller, Metzger und Landwirte. Härte und Ausdauer sind aber auch wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Radrennfahrer. Erinnerungen an Siege bei grossen Rundfahrten und der Weltmeisterschaft werden bei der älteren Generation beim Anblick des Rennvelos von Radweltmeister Ferdy Kübler wach, der nur wenige Schritte vom Ortsmuseum entfernt seine Jugendzeit verbracht hat. Eine Gedenktafel an "seinem" Haus erinnert an die grössten Erfolge seiner langen und entbehrungsreichen Karriere. Auf dem Rückweg kann der Besucher nochmals in der "guten alten Zeit" schwelgen und Vergleiche mit der heutigen Zeit anstellen.
Wohnmuseum
Das Wohnmuseum befindet sich in einem sogenannten Taunerhaus (Taglöhner) am Bach. Die Wohnung in diesem prächtigen Riegelhaus ist weder durch Umbau noch Renovation beeinträchtigt und zeigt auf eindrückliche Art, wie unsere Vorfahren vor ein- oder gar zweihundert Jahren gelebt haben.
Kaum haben wir die Haustüre einen Spalt weit geöffnet, fühlen wir uns in die gute alte Zeit zurückgesetzt. Alles ist wohlgeordnet, und wenn die Familie gegen Abend vom Feld zurückkommt, füllt sich dieser Raum wieder mit Leben. Treten wir also ein, die früheren Bewohner geben uns Einblick in ihr Leben. Im Parterre eine Küche, ohne Wasser und Licht, mit einem gut erhaltenen Sechtofen, sowie, nebenan, eine niedere Stube mit Buffet und grossem Kachelofen. Im Gang des Obergeschosses finden wir einen Stücklitrog aus dem Jahre 1644 und erhalten Einblick über Art und Konstruktion der Hausinnenwand. Im Schlafzimmer mit den kleinen Fensterscheiben steht das Himmelbett, und auf der Bettdecke liegt das Leinennachthemd sowie das gehäkelte Nachthäubchen zum Gebrauch bereit. Eine geschnitzte Wiege und ein kleisterbemalter Kasten ergänzen die Raumausstattung. Diese alten, gemütlichen Möbelstücke mögen jedoch nicht über die damals harte Realität einer einfachen Taglöhner-Familie hinwegtäuschen.
Die beiden Museen sind von April bis Oktober jeden ersten Sonntag im Monat von 13.30 bis 17.00 Uhr geöffnet.
Pappenmannli
Der Ursprung dieser Tradition geht vermutlich auf Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, als sich die wehrfähigen jungen Männer aus der Region in Marthalen zur Musterung einzufinden hatten. Während mehreren Tagen wurde ihnen auf dem Lindenhof vom Trüllmeister militärischer Drill und Gehorsam beigebracht. Eine mögliche, aber nicht belegte Erklärung ist, dass dieses Tun die einheimische Dorfjugend zur Nachahmung animiert habe und sie mit alten Uniformen und mehr oder weniger wertlosen Waffen durchs Dorf zogen und dabei ihre Vorbilder kopierten. Mit den Jahren soll sich dann der Brauch des Holzsammelns für das Frühlingsfeuer mit den militärischen Nachahmungen vermischt haben. Heute tragen die Knaben als "Bewaffnung" einen Säbel und fleissige Frauenhände sorgen jeweils im Hintergrund dafür, dass die nach einem solchen Festtag strapazierten Uniformen auch im nächsten Jahr wieder von den Pappenmannli stolz zur Schau getragen werden können.
Man sagt, der sinnige Name erinnere diese jungen Burschen (Mannli) daran, dass sie erst noch viel Pappe (Mus) essen müssen, bis sie richtige Männer sind.
Spätestens in den ersten Januartagen machen sich die "Pappenmannli" ans Werk. Von nun an treffen sie sich jeden Mittwoch- und Samstagmittag um ein Uhr auf dem Lindenhof und fahren mit Traktor und Wagen in den nahen Wald. Die zwölf- bis fünfzehnjährigen Knaben sammeln auf den vom Förster zugewiesenen Plätzen herumliegendes Holz und wenn der Wagen gefüllt ist, geht die Fuhr ab Richtung Lindenhof. Erst wenn der jeweils gewaltige, kunstvoll aufgeschichtete Holzstoss den Vorstellungen der Jungmannschaft entspricht, wird auf die Fahrt in den Wald verzichtet.
Fleissige Hände haben inzwischen auch im Primarschulhaus die Arbeit aufgenommen. Mit grossem Eifer schneidern und stopfen die Sechstklässer den "Böögg". Kurz bevor er dann seinen endgültigen Platz über dem Holzstoss erhält, stecken die Kinder noch eine grössere Anzahl Kanonenkracher in sein Inneres.
Am "grossen Tag", nach dem Mittagessen, dürfen sie ihre rotweissen Kostüme, die an frühere Reisläufer erinnern sollen, anziehen und los geht die Fahrt mit Traktor und Wagen durch die Strassen. Ein letztes Mal wird Brennholz eingesammelt. Da und dort liegt bereits eine "Holzburdi" vor dem Haus, die ebenfalls noch zum Lindenhof transportiert wird. Auch der "Böögg" durchfährt an diesem Nachmittag ein letztes Mal das Dorf und wird anschliessend mit der Feuerwehrleiter über dem Holzstoss befestigt. Dann endlich, um genau 20 Uhr, ist es soweit. Der mächtiger Holzstoss wird angezündet, und zum letzten Mal an diesem Tag rasseln die Sammelbüchsen und bitten um eine anerkennende Spende für die geleistete Arbeit. Wehe denen, die sich an diesem Abend auffällig verhalten oder aus vergangenen Tagen noch eine Rechnung offen haben. Die zahlreichen Hexen auf dem Feuerplatz sorgen mit ihren Saublattern für eine gerechte Bestrafung.
Tätsch
Ein schöner Brauch für die Dorfjugend ist in den letzten Jahren leider verschwunden. Mit der Armbrust bewaffnet zogen die jungen Burschen jeweils am Sonntag zum Schiessplatz auf dem Lindenhof und absolvierten dort, dem Vorbild Wilhelm Tell nacheifernd, ihre Zielübungen. Ab und zu traf man sich mit gleichaltrigen Kollegen aus anderen Gemeinden zum Wettkampf und erkürte dabei nicht nur den besten Schützen, sondern auch die bessere Gemeinde. Als Tätsch wurde die Lehmwand oder der Lehmsack, der ursprüngliche Zielwall der Pfeile, bezeichnet. In den vergangenen Jahrzehnten wurde jedoch nur noch auf Holzscheiben geschossen.
Weitere Traditionen wie die Bauernfasnacht, die "Gabete", das Uebergeben von Geschenken an ein Hochzeitspaar, das Schiessen zur Hochzeit oder das Kranzen beim Tode einer ledig gebliebenen Person haben sich bei der einheimischen Bevölkerung bis heute bewahren können.